Migration aus Venezuela: »Nachts merke ich, dass etwas in mir zerbrochen ist« (2023)

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Migration aus Venezuela: »Nachts merke ich, dass etwas in mir zerbrochen ist« (1)
Globale Gesellschaft
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In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechendeAnsätzefür die Lösung globaler Probleme.

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Adriana Sierra lief zu Fuß von Venezuela nach Peru, an der Straße entlang. Sie trug Crocks und zog einen kaputten Rollkoffer hinter sich her. Ihren kleinen Sohn Mateo, damals zwei Jahre alt, trug sie auf dem Arm. Sie wünschte sich ein besseres Leben für ihn. Drei Monate dauerte die Reise. In Cucuta, Kolumbien, wurde sie überfallen und sexuell missbraucht. So erzählte sie es der Fotografin Daniela Rivera Antara.

In Lima, der Hauptstadt von Peru, verkauft Adriana Sierra Kaffee auf der Straße. Am meisten Angst habe sie vor dem Zubettgehen. Nachts in ihren Träumen verfolgten sie die Erinnerungen an ihre Flucht.

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Adriana Sierra, heute 23, ist eine von mehr als sechs Millionen Menschen aus Venezuela, die geflohen sind – vor einem repressiven politischen System, einer kollabierenden Wirtschaft und vor Gewalt in den Straßen. Aus einem Land, in dem die Gesundheitsversorgung ebenso wenig gewährleistet ist wie die mit Strom, Wasser oder Lebensmitteln.

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Die Massenflucht aus Venezuela gilt als größter Exodus der jüngeren Geschichte Lateinamerikas. Die meisten Geflüchteten, knapp zwei Millionen, schafften es ins Nachbarland Kolumbien – wo sie in bitterer Armut leben, viele von ihnen Hunger leiden und ihre Kinder oft nicht zur Schule gehen können. Peru ist mit 1,3 Millionen Menschen aus Venezuela das zweitgrößte Aufnahmeland.

Doch auch hier leben die Geflüchteten meist prekär, arbeiten informell, wohnen in den Randgebieten großer Städte, viele aufgrund des restriktiveren politischen Kurses der Regierung gegenüber Einwanderern illegal. Die Mehrheitsgesellschaft stigmatisiert sie zunehmend als kriminell, als Mörder und Diebe. Die Fremdenfeindlichkeit hat zugenommen.

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»Tagsüber denke ich, dass alles in Ordnung ist. Aber nachts merke ich, dass etwas in mir zerbrochen ist. Ich kann nicht schlafen, weil ich Albträume habe, dass ich wieder in Venezuela bin, dass ich ziellos herumlaufe. Ich denke daran, wie ich nach Peru gelaufen bin, über die Berge in Kolumbien, ohne Schuhe oder Jacke. Ich war obdachlos in Venezuela, das ist der Grund, warum ich gegangen bin. Manchmal blicke ich zurück und denke: Wir hätten beide sterben können.«

Ihre Geschichte hat Adriana Sierra der Fotografin Daniela Rivera Antara erzählt, die acht junge Frauen aus Venezuela in der peruanischen Hauptstadt Lima begleitet hat. »Ich lief durch Peru und ich hörte, wie die Leute die Venezolanerinnen abwerteten«, sagt Rivera Antara. Immer stärker würde die Gesellschaft die Frauen sexualisieren, als Prostituierte betrachten. »Für Männer gelten sie als verfügbar; von Frauen werden sie als sexuelle Bedrohung wahrgenommen.«

Alle Frauen aus Venezuela hätten auf ihrer Reise und später in Peru traumatische Erfahrungen gemacht, rassistische Beschimpfungen oder Gewalt erlebt und Männer hätten versucht, sie zu sexuellen Handlungen zu nötigen »für einen Job, für Essen, für ein Zimmer«.

Doch Rivera Antara wollte sich nicht auf ihre Traumata konzentrieren: »Gerade wegen der schrecklichen Dinge, die sie alle erlebt haben und denen sie täglich ausgesetzt sind, wollte ich etwas anderes zeigen: ihr Familienleben, ihre Schutzräume, in die sie sich zurückziehen, ihre Nostalgie und Sehnsucht nach der Heimat.«

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»Ich fantasierte, eine Königin zu sein und Aranza eine Prinzessin«, sagt Joselvis Medina. Das Weihnachtskleidchen ihrer Tochter liegt auf dem Boden des Raumes, den sie im Süden von Lima bewohnen. Die beiden kamen nach Peru ohne einen Koffer oder etwas zu Essen. Anfangs hatten sie keine Küche und kein Bett. »Ich will, dass Aranza alles hat, was ich nie hatte. Vielleicht ist das albern und unwichtig, aber das ist mein Traum.«

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»Ich bin eine Träumerin. Ich wäre gerne Künstlerin. Ich verkaufe Kaffee, weil ich nie studiert habe oder gelernt habe, wie man Fingernägel lackiert. Die Männer starren mich die ganze Zeit an und ich bete abends, dass ich zu Hause ankomme.«

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Yenifer, die aus Sicherheitsgründen nur ihren Vornamen verwenden möchte, traf die Fotografin Rivera Antara ebenfalls in Lima.

Sie war im November 2019 mit einem Bus nach Lima gekommen. Gleich nach ihrer Ankunft begann sie als Hostess und dann als Kellnerin zu arbeiten. Das Trinkgeld musste sie abgeben. Sie fand heraus, dass sie schwanger war. Ihr Chef erklärte ihr, das Baby würde sie ruinieren. Wenn sie abtreiben würde, würde er ihr ein besseres Leben ermöglichen, ihr alles kaufen, was sie wolle – sie müsste nur Sex mit ihm haben. Yenifer kündigte.

»Sie war gemeinsam mit ihrem Partner ausgewandert und ihre Situation war etwas anders: Da sie HIV hat, also als besonders vulnerabel gilt, bekam sie schnell einen legalen Status«, berichtet die Fotografin. Trotzdem erlebte auch Yenifer in Peru Rassismus und Misshandlung. Besonders die Geburt ihres Sohnes erlebte sie als traumatisch.

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»Der Arzt erzählte mir die ganze Zeit, mein Ehemann sei dafür verantwortlich, er habe nicht für die Anästhesie bezahlt, dass venezolanische Männer Mörder seien und ich selbst schuld sei, weil ich ein Baby mit einem Venezolaner bekomme. Aber mein Ehemann hatte bezahlt, trotzdem haben sie mir keine Betäubung gegeben.«

Während der Geburt ihres Sohnes per Kaiserschnitt ohne Betäubung sei Yenifer vom Arzt und von den Krankenschwestern beleidigt worden, erzählte sie der Fotografin. Als sie über den Schmerz klagte, hätten die Schwestern sie »lahm« genannt. Während der ganzen Prozedur habe sie Angst gehabt, dass ihr Sohn bei der Geburt mit dem HI-Virus infiziert werden würde – so wie es Yenifer selbst bei ihrer Geburt passiert war. Ihr Sohn wurde später negativ auf das Virus getestet.

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»Sie suchen ein besseres Leben und kommen in einer feindlichen Umgebung an«, sagt die Fotografin Rivera Antara. Viele der Frauen würden ihre Wohnungen nur noch zum Arbeiten verlassen. »Sie vermissen ihre Heimat, ihre Familien, ihre Kultur, die Möglichkeit, Freunde zu treffen«, sagt Rivera Antara, »und schlicht das Gefühl, eine Person sein zu dürfen und als solche wahrgenommen zu werden.«

Rosa Marin, 27, studierte in Caracas Kommunikationswissenschaft und wollte Journalistin werden. Doch ihr Studium konnte sie nicht beenden, die Gewalt auf den Straßen nahm zu, sie hatte zwei Kinder zu versorgen. Also wollte sie versuchen, sich in Peru etwas aufzubauen. Ihre beiden Söhne sollten ein besseres Leben haben. Die Grenze überquerte sie zu Fuß.

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»Auf der Reise hatte ich große Angst. Als ich mit meinem Bruder und meinen Söhnen durch den Grenzfluss lief, zog mich ein kolumbianischer Polizist zur Seite. Mein Bruder nahm die Kinder und ich folgte dem Mann, der die ganze Zeit seine Waffe hielt. Er führte mich von der Hauptstraße weg und nach 20 Minuten erreichten wir ein Schlachthaus. Ich dachte, ich würde sterben. Aber als wir in das Haus hineingingen, fragte er mich, ob ich mit ihm ausgehen würde. Er fände mich süß«, erzählt Rosa Marin.

In Lima verkaufte Rosa Marin Spültücher und Essen auf der Straße, arbeitete als Reinigungskraft. Doch sie fühlte sich zunehmend unsicher, zog sich zurück. Sie blieb zu Hause, um auf ihre Söhne aufzupassen. Sie konnte weder studieren noch richtig Geld verdienen. »Sie steckte fest«, sagt Rivera Antara.

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Rosa Marin und Yenifer sind inzwischen nach Venezuela zurückgekehrt. Yenifer will dort versuchen an neue Pässe heranzukommen, um in Spanien oder Deutschland Asyl zu beantragen. Auch Rosa Marin möchte wieder auswandern, allerdings nicht nach Peru.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft.

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Author: Otha Schamberger

Last Updated: 28/10/2023

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